Der Westen wächst noch weiter zusammen

Der Westen wächst noch weiter zusammen

Als uns Covid-19 hier  in Deutschland im Frühjahr 2020 in eine Art Dornröschenschlaf schickte, veränderte sich für uns alle die gelebte Normalität.

Den lebendigen Vorderen Westen in all seiner kulturellen und kulinarischen Vielfalt oder seinem einnehmenden Einfallsreichtum erleben, Friseurbesuche, Chai Latte im Café, stöbern in den Auslagen vom Lieblingsbuchladen um die Ecke: All dies war vom einen auf den anderen Tag vergänglich geworden.

Haben Sie sich nicht auch gefragt, wie die kleinen Einzelhändler im Viertel mit dieser Herausforderung umgegangen sind? Auf unserer Spurensuche durch den Vorderen Westen stießen wir auf zahlreiche Menschen, ihre bemerkenswerten Geschichten einer besonderen Zeit und somit letztendlich auf Perspektiven, die unser Zusammenleben als Gesellschaft wie unter einem Brennglas in ein neues Licht rücken.

Zuversicht in der Krise

„Insgesamt war die Corona-Zeit für uns alle im Laden extrem heftig“, erzählt Gabi Kirchhoff, die Inhaberin des Cafés am Bebelplatz. Im Frühjahr wiedereröffnete Gabis Team das Traditionscafe, das sich mit seiner schmucken Fassade malerisch an die gründerzeitliche Architektur des Platzes schmiegt. Der Traum von Selbständigsein und Unabhängigkeit, die gefühlte Aufbruchstimmung kollidierte sechs Wochen später jäh mit dem Ausbruch der Pandemie. Keine Gäste, keine Einnahmen, keine Zukunft – so lautete die erste, bittere Prognose nach Bekanntgabe der bundesweiten Covid-19-Beschränkungen.

Manchmal bleiben Prognosen jedoch entgegen jeder rationalen Kalkulation eben das, was sie nun einmal sind: unpräzise Wetten auf die Zukunft. Bei dieser Wette machten viele Selbstständige ihre Rechnung ohne die Widerständigkeit ihrer Gäste und den eigenen Mut zur unternehmerischen Kreativität.

Viele Menschen begegneten sich in der notwendig gewordenen Isolation mit Zusammenhalt und ermutigendem Gemeinsinn. 

Der medizinische Ausnahmezustand sollte kein Gesellschaftlicher werden. Wer jedoch meint, pandemiebedingte Regelungen schränken uns in unserer Handlungsfähigkeit, ja in unserer Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe ein, der darf sich von Gabi und ihren zahlreichen MitstreiterInnen gerne eines Besseren belehren lassen.

Verwundbarkeit macht uns alle  solidarisch

Regelmäßig gaben Kunden weit über das normale Maß hinaus Trinkgeld, kamen an behelfsmäßig installierte Kioskfenster, holten sich ihre Waren persönlich vor der Ladentür ab und appellierten an ihre Nachbarn, weiterhin lokal zu kaufen. Ohnmacht verwandelt sich in Engagement: „Die Leute sind zu uns gekommen und haben einfach mal 10 Euro Trinkgeld gegeben. Im Gegenzug haben wir dann Gutscheine verteilt. 

„Die Leute wollten die Gutscheine nicht einmal annehmen“

Doch die wollten manche gar nicht annehmen. ‚Nein, alles gut, die brauchen wir nicht. Wir machen das gerne. Ihr sollt weiterhin hier im Quartier bleiben‘“, weiß Eric Raida zu berichten, Inhaber des Ahlemächt’jer.

Auf die Welle an Zuspruch reagierten die Selbstständigen mit äußerst kreativen Lösungen: Buchbestellung via WhatsApp, Umstellung der Produktion von Boxershorts auf Gesichtsmasken, Wolle und Nähgarn auch per Fahrradkurier bis vor die Haustür liefern. Man machte aus der Not eine Tugend.

Und auch untereinander half man sich. Als Astrid Gräber coronabedingt aus ihren alten Räumlichkeiten ausziehen musste, fand sie Unterschlupf im Geschäft von Patrizia Plandero. Mittlerweile hat sie ihren Friseursalon in einem separaten Boudoir hinten im Laden, die beiden sind enge Freunde geworden: „Corona hat uns zusammengebracht!“

Patrizia Plandero (l.) und Astrid
Gräber (r.) fanden sich in der Not

Die Ambivalenz der Krise

Der auf wechselseitiger Hilfe basierende Aufbruchsgeist musste jedoch gleichsam mit politischen Bestimmungen und Entscheidungen in Einklang gebracht werden. Die von Stadt, Land und Bund angebotenen Corona-Hilfen waren bei den Einzelhändlern und Ladenbesitzern zunächst richtig adressiert: „Für die Überbrückungsgelder der Stadt Kassel bin ich sehr dankbar“, sagt Susanne Wolf, Geschäftsführerin des By Design, „sie haben mir sehr geholfen, diese kritische Zeit zu überstehen.“

Andererseits stießen Politik und Behörden angesichts der Unwägbarkeit der Situation und der beinahe täglich erneuerten Informationslage an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Oftmals kam es wegen wechselnder Vorschriften und Regelungen zu Missverständnissen, es herrschte Unsicherheit und Ungewissheit, wie man sich korrekt zu verhalten habe. Der Umgang mit Abstand und Anstand beschäftige Personal und Kunden gleichermaßen. Zusätzlich schlugen sich die vielen To-Go-Verpackungen in der durch den verringerten Verkehr aufpolierten Öko-Bilanz während der Krise nicht unbedingt zum Vorteil nieder.

Berichteten von ihren Corona-Erfahrungen: Andreas und Paola
Alfonso von Sapori D‘Italia

Was übrig bleibt

Während das Ordnungsamt die Kontrollen in der Stadt intensivierte, das öffentliche Leben im Zaum zu halten versuchte, riefen im Verlauf des Sommers die so genannten Corona-Demonstrationen Unverständnis bei den Geschäftsinhabern hervor. Gleichzeitig kam es auf der Friedrich-Ebert-Strasse zu zweifelhaften Menschentrauben unter den Feiernden. Es grassierte die Angst vor erneuten Schließungen.

Eine erste Lehre aus der Corona-Zeit dürfte deshalb sein: Alles ist relativ, nichts ist total, vieles ist komplex und das wenigste einfach zu beantworten. Sicher scheint lediglich zu sein, dass es vielen Menschen nicht egal gewesen ist, was mit ihren Nachbarn, Kollegen und Mitmenschen geschieht. Ob Einkaufshilfen für Ältere,  Extra-Trinkgeld beim Lieblingsrestaurant oder einfach durch das gegenseitige Rücksichtnehmen im Alltag: Auch der Vordere Westen erlebte somit eine Renaissance der Solidarität, allerdings eine, die auf wackeligen Füßen steht. Der Grat zwischen Einschränkung und Ermöglichung, zwischen Solidarität und Selbstsucht ist schmal und verlangt uns als Gesellschaft alles ab.

Niklas Simon

Kassierer

SPD Vorderer Westen

Fotos: Niklas Simon / Steffen Hunold